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Spiegel und rule of four

Zur Zeit spielt sich wieder das seltsame Phänomen ab, an das ich mittlerweile schon so gewohnt bin: je näher die Realität an mich heranrückt, desto weiter entferne ich mich von ihr. Ich nenne es Realität, denn wirklich ist meine Welt auch. Der Begriff der Realität hat etwas Abstraktes und Formales, wie die Zeit und der Raum bei Newton, leere Kästen. Meine Wirklichkeit – wie die Welt hinter den Spiegeln, dunkel und schön.

Außerdem stehe ich noch ein wenig unter dem Eindruck der Lektüre von Rule of Four, das ich weniger wegen des Rätsels um das Buch interessant finde, sondern wegen der Darstellung des Konfliktes, in dem sich Tom befindet. (Rule of Four sollte nicht mit dem Da Vinci Code verglichen werden, es hat ein ganz anderes Thema: hier steht weniger das Renaissance-Rätsel im Mittelpunkt, sondern das Rätsel ist Dreh- und Entwicklungspunkt der Protagonisten, die ihr Leben danach ausrichten, indem sie es suchen oder meiden.) Tom wächst zwischen zwei Fronten auf: der Arbeitswut seines Vaters, der sein Leben dem Buch widmet, und der Lebenslust seiner Mutter. Diese Frontenstellung drängt sich ihm erneut auf, als er zwischen seinem Freund Paul, der seine Tage und Nächte mit dem Rätsel verbringt, und seiner Freundin Katie wählen muss. Katie´s Interesse gilt der Photographie, sie verkörpert die Gegenwart. Abgesehen von dem hint auf die Photographie, scheint Katie der Weg in die Zukunft zu sein, der Weg, der die Vergangenheit leugnet, die sein Vater darstellt. Paul in allen drei Zeiten zu hause ist: er erweckt die Vergangenheit in der Gegenwart zum Leben und lässt sie seine Zukunft bestimmen, aber vor allem ist er der Weg von der Vergangenheit in die Gegenwart, der Weg, der die Vergangenheit in sich trägt und nicht negiert. Tom nimmt an beiden Leben teil und wählt schließlich Katie. Vernünftig, würde man denken. Das Leben, die Gegenwart und die Zukunft ist wertvoller, als sich in der Vergangenheit zu verlieren. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass es die falsche Wahl war: Tom verliert sich stattdessen in der Zukunft, in einer Gegenwart, die leer ist, weil die Zukunft keine Richtung hat. Die Richtung erhält sie nur aus der Vergangenheit. Die Autoren wählen ein passendes Bild, um das zu verdeutlichen: wenn die Zukunft ein Bild in einem Spiegel ist, in den man hineinsieht, sieht man die Zukunft immer nur als Reflexion in der Gegenwart, und gruppiert um sich selbst. Glaubt man, man sieht die Zukunft besser, wenn man sich umdreht, um sie direkt zu erfahren, nicht mehr vermittelt durch den Spiegel, verliert man jeden Bezugspunkt, weil man sich dann selbst nicht mehr sieht. In einem weiteren Schritt könnte man sagen, dass es wenig Sinn macht, sich selbst zu verleugnen.

Ist es überinterpretiert, wenn man daraus eine Symphatie für all die seltsamen Gestalten herausliest, die ihr Leben etwas widmen, das wenig mit dem Leben zu tun hat, die etwas hinterherjagen, dass manchmal nur eine Halluzination ist, aber eine schöne? Ich glaube, dass ich das so interpretieren möchte. Ich glaube, ich hätte nichts dagegen, Paul zu sein.
Morgenlandfahrer - 8. Mär, 09:19

Hättest Du nichts dagegen Paul mit Katie zu sein? Das ist mir nicht ganz klar geworden!
Ansonsten gefällt mir die Konklusion, würde sie aber gerne noch ergänzen.
Ich finde das Bild des Spiegels sehr interessant. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind in mir Selbst gebündelt. Der nächste Schritt wäre aber dann in meinen Augen, die Gegenwart als ein Produkt meiner eigenen Entwicklung, als Folge der Vergangeheit zu sehen, und damit wäre die Vergangenheit unwichtig (falls bewältigt). Die Zukunft ist nur eine Idee, der innere Kompass ist in Wirklichkeit der Schlüssel zum Sein. Diesen inneren Kompass hat Paul nicht. Er versucht ihn durch Katie zu erhalten, die aber ihr eigenes Leben führt und an deren Gegenwart er nicht teilhaben kann, da sie anscheinend unabhängig ist. Dadurch entsteht in ihm eine innere Leere, die er in Ermangelung eines gefestigten inneren Objektes (der Spiegel) nicht zu füllen vermag.

teildesganzen - 11. Mär, 21:27

Du meinst bestimmt

nicht Paul, sondern Tom, was aber aus meinen Text vielleicht auch nicht ganz klar geworden ist. Paul ist derjenige, der total das Buch und das Rätsel auslebt, während Tom sich teilweise dagegen sträubt, weil er seine Vergangenheit nicht annehmen will.

Irgendwie sollte die Vergangenheit aber nicht bewältigt, sondern verinnerlicht werden, sie sollte nicht abgeschoben, sondern als konstitutiver Teil von uns begriffen werden. Was ist mit Menschen, die keine Erinnerung mehr an sich und ihre Vergangenheit haben? Ihre Individulität steht wieder ganz am Anfang. Individualität ist etwas, das man auf dem Weg von der Vergangenheit erwirbt. So verstehe ich auch deine Idee des inneren Kompass, der eben etwas Gewordenes ist, etwas, das wir uns konstruiert haben.
Morgenlandfahrer - 12. Mär, 10:06

Bewältig meint in meinen Augen verarbeitet und begriffen. Aber nichts was weg ist sondern die Gegenwart ist immer ein Produkt der Vergangenheit.
Weißt Du alles aus Deiner Vergangenheit? Oder bist DU ein Produkt, dessen Weg eigentlich nicht vollständig nachvollziehbar ist?

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