Tokyo Year Zero von David Peace
“Ton-ton-ton”, dröhnt es durch das zerstörte Tokyo, unablässig wird gehämmert um die Stadt nach den Bombenangriffen der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen. „Gari, gari, gari“ ist das Geräusch des Kratzens auf der Haut, die fast schon unbewusste Reaktion auf das unerträgliche Jucken aufgrund der Hitze, der Moskitostiche und des Schmutzes. Im August 1946 ist Japan am Ende, die Niederlage seit einem Jahr besiegelt, Tokyo ist besetzt von den Amerikanern, und die japanische Bevölkerung kämpft ums Überleben.
In dieser Zeit der Verzweiflung, der Demütigung, des Hungers und der Angst wird ein Verbrechen entdeckt, der Mord an einer jungen Frau, und bald stellt sich heraus, dass ein Serienmörder Tokyo und Umgebung heimsucht. Inspektor Minami wird mit dem Fall beauftragt, und Inspektor Minami ist das Guckloch, durch das der Leser diese Epoche des Schmerzes und der Not erfährt – und erleidet.
Vielleicht hat fragt man sich manchmal, wie man sich in der Haut eines Anderen fühlen würde und David Peace ermöglicht dem Leser genau das. Durch die kraftvolle, originelle Schreibweise wird ein erstaunlicher Grad an Unmittelbarkeit des lesenden Erfahrens erreicht. Die Sprache ist abgehackt, Sätze wiederholen sich, das Denken ist wie ein Stottern, eingetrichterte Phrasen tauchen monoton aus dem Unterbewusstsein auf. Der Leser merkt sehr schnell: Minami ist fertig, er hat Angst, er hat unerträglichen Stress. Vielleicht schreibt man das anfangs noch der Situation in der Nachkriegszeit zu, aber schnell wird klar, dass etwas in Minamis Vergangenheit lauert, etwas, das ihn zu verschlingen droht, das stark ist, vielleicht stärker ist als er.
Der letzte Band meiner persönlichen Japan-Trilogie ist von einem Briten geschrieben und führt noch weiter in die japanische Vergangenheit zurück, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Vielleicht ist die Situation Tokyos im Jahr 1946 mit der Berlins vergleichbar; wenn man das Buch als Deutscher liest fühlt man sich jedenfalls an die Nachkriegszeit in Deutschland erinnert. Zwar ist das Grauen der Kriegsverbrechen in und im Ausgang von Deutschland nicht erreichbar, aber auch von japanischer Seite aus wurden Kriegsverbrechen verübt und in beiden Fallen ist es der Einzelne, der Schuld auf sich geladen hat und damit leben muss. Und in beiden Fällen leidet die Zivilbevölkerung – und vor allem die Frauen, die immer das letzte Opfer des Krieges sind.
So ist es nur folgerichtig, dass auch Frauen das Opfer dieser Serie von Verbrechen sind. Ein Verbrechen – was macht eine Tat zu dieser Zeit zu einem Verbrechen? Das Buch beginnt am Tag der Niederlage, an dem um 12 Uhr die Erklärung des Tenno verlesen wurde. Genau an diesem Tag wird das erste Opfer des Serienmörders entdeckt und ein alter Zwangsarbeiter wird aufgefunden und im Schnellverfahren auf grausame Art gerichtet. Allerdings erfolgt die Tötung erst nach der Ansprache des Tenno und entzieht der Handlung der beiden Kempeitai, der japanischen Militärpolizei, damit jede gesetzliche Grundlage: schnell wird aus einer Hinrichtung ein Mord. Gemordet, gefoltert, vergewaltigt wurde auch in Zeiten des Krieges, und diese Unmoral wird in die Nachkriegszeit hinübergeschleift. Viele Mitglieder der Kempeitai tauchen unter, bekommen unter neuem Namen Posten bei der Polizei, sie werden gedeckt und ihre Verbrechen unter den Teppich gekehrt. Das organisierte Verbrechen reorganisiert sich und verschafft sich durch Bestechung Unterstützung durch die Polizei. Die Bevölkerung ist verzweifelt und rücksichtslos, Frauen prostituieren sich für Essen, Gewalt ist überall. Moralisch ist Tokyo ein Sumpf, aus dem wie eine stinkende Blase ein einzelner Verbrecher, der Serienmörder, hervorblubbert. Und auch wenn die Morde brutal und abschreckend sind, so scheint der Alltag durch die Augen Minamis gesehen nicht weniger erschreckend. Und die Vergangenheit, die sich im Unterbewusstsein Minamis nach oben kämpft, droht noch viel monströser zu sein, als die Taten des Mörders.
Es ist kein Vergnügen dieses Buch zu lesen, aber die Lektüre ist absolut fesselnd, faszinierend und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Das Buch ist mehr als ein Krimi, ich würde es als Literatur bezeichnen; und es ist auch mehr als Literatur, weil es einen Blick in die Vergangenheit evoziert, bzw. einen Blick in die Psyche eines Anderen. Man muss sich immer wieder daran erinnern, dass das Buch nicht von einem Japaner geschrieben wurde, denn man hat die ganze Zeit das Gefühl von Authentizität, von einem Fenster in die japanische Seele zu dieser Zeit. (Ich würde wirklich gerne wissen, wie ein japanischer Leser die Lektüre empfindet!!) Auch wenn der Protagonist zutiefst gestört ist - so gestört, dass man zu Ende des Buches gezwungen wird zu hinterfragen, was geschehen ist – der Eindruck von Authentizität bleibt, von der Alltagserfahrung, von der Angst, der Demütigung, der Resignation und den kurzen, hoffnungsvollen Momenten des Aufbäumens, des Menschseins.
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teildesganzen - 14. Dez, 20:17