In the Woods von Tana French; oder
Ein Krimi und das Psychogramm des Krimilesers
Der Köder für den Leser ist simpel und äußerst effektiv. Es handelt sich um einen Fall aus der Vergangenheit, der alles beinhaltet, was die Neugierde und morbide Sensationslust eines Krimilesers reizt. Im Jahr 1984 verschwinden in einem Wald in der Nähe von Dublin drei zwölfjährige Kinder. Nur ein Junge wird später aufgefunden, ein weiterer Junge und das Mädchen bleiben verschwunden. Seltsame Schnitte in der Kleidung des Jungen und sehr viel Blut an seinen Schuhen lassen das Schlimmste befürchten. Und das Schlimmste tritt ein: die beiden Kinder werden nie gefunden. Es gibt keine Spuren, keine Verdächtigen, keine Motive. Und der gefundene Junge kann sich an nichts erinnern.
Sofort bricht eine Welle von Erwartungen und Assoziationen durch den ohnehin nur schwach gesicherten Grübeldamm des geneigten Krimilesers. Die ersten Vermutungen nehmen Gestalt an, die ersten Rekonstruktionen formieren sich. Der Krimileser ist in seinem Element – und Tana French kennt dieses Element genau. Und sie weiß vor allem welche Knöpfe sie jetzt drücken muss, damit aus dem Schwall von Vermutungen ein wahres Feuerwerk wird.
Der Krimi spielt in der Gegenwart und der Protagonist Ryan ist genau der kleine Junge, der 1984 verschwunden und ohne Erinnerung wieder aufgetaucht ist. Die Erinnerung ist noch immer nicht zurückgekehrt, aber Ryan kann damit leben. Genaugenommen ist er gar nicht scharf darauf, sich an etwas zu erinnern. Der Krimileser kann das naturgemäß nicht nachvollziehen, aber das Buch hat ja auch gerade erst angefangen. Ryan ist Polizist geworden. Aha. Nein, wieder daneben. Er will nicht seinen eigenen Fall lösen, ihn fühlt sich von der Arbeit an sich angezogen. Der Krimileser zuckt mit den Schultern. Wer es glaubt, … .
Von wegen glauben oder nicht glauben, trauen und nicht trauen. Ryan berichtet ganz zu Beginn von dem gespaltenen Verhältnis des Polizisten zur Wahrheit. Er sucht die Wahrheit. Aber um sie zu finden, lügt er. Der Krimileser vergisst den Spruch zwar im ersten Drittel des Buches wieder, aber er wird schnell daran erinnert. Von Tana French, die weitere Köder einstreut, kleine Anmerkungen fallen lässt, manchmal subtil, manchmal offensichtlich, die den Gedankenwirbel in Gang setzt, bis er sich schneller und immer schneller dreht. Genaugenommen ist dieses Buch Manipulation auf allen Ebenen, aber der Krimileser wird ihr das am Ende nicht übel nehmen. Genaugenommen tut sie nichts außer die Fantasie des Lesers anzustacheln, den Rest erledigt der Leser allein. Er rennt ganz allein in sein Verderben - und zwar genau so wie es auch Ryan tut. Zwar ist die Manipulatorin in seinem Fall bösartiger als im Fall des Lesers (nehmen wir jedenfalls mal zugunsten Tana Frenchs an), aber er und der Leser wissen später genau, dass es ihre eigene Paranoia war, die sie bis hierhin getrieben hat. Das ist eines der wunderbaren Merkmale dieses Romans: die Parallelität von Autorin und einer ihrer Figuren, von Ryan und dem Leser. Der Leser erlebt auf einer anderen Ebene genau das, was der Protagonist erlebt.
Die weitere Besonderheit ist das Spiel mit zwei wesentlichen Merkmalen des Whodunit: die Suche nach Wahrheit und die Sehnsucht nach der Heilen Welt. Groß geschrieben. In Bezug auf die Wahrheit ist der Whodunit als literarisches Genre in einer prekären Situation: er soll langsam die Wahrheit enthüllen, ohne den Leser zu betrügen. Etwas platt ausgedrückt löst French den Knoten durch massive Ablenkung. Sie beschäftigt den Leser intensiv mit anderen Dingen, und so übersieht er so manches. Tatsächlich ist die Ablenkung nur in einem Aspekt voluminös, in vielen anderen Aspekten ist sie fein wie ein Federkitzeln, sie ist verästelt, psychologisch, emotional. Was den Leser so beschäftigt, sind vor allem die vielen Fäden zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die gesponnen werden. Da ist zuerst einmal die Ähnlichkeit des Falls, den Ryan bearbeiten soll: ein zwölfjähriges Mädchen wird ermordet, in der Nähe des Ortes, an dem auch die beiden Kinder damals verschwunden sind. Dann taucht aber auch Cassie als Partnerin in Ryans Leben auf, genauso plötzlich wie Jamie damals verschwand und mit ihr und dem Kollegen Sam zusammen scheint Ryan die Zeit nachzuholen, das er mit Jamie und Peter vielleicht verlebt hätte. Und es sind die Zweifel, die gesät werden. Ryan hieß früher Adam. Das Leben Adams vor den Geschehnissen ist so gut wie ausgelöscht, fast scheint es sich um zwei Personen zu handeln. Das Moment der Schizophrenie taucht kurz auf. Die Versuche Ryans sich zu erinnern verlaufen ebenfalls zwiespältig. Kann er den Bildern trauen, die sein Gedächtnis plötzlich einspielt? Kann er sich trauen?
Das andere Moment, die Heile Welt, ist das eigentliche Ziel des klassischen Whodunit, und steht im Hintergrund jeder Lösung eines Falls. Der Polizist hat die Aufgabe, die verborgene Ordnung aufzudecken; er fegt die Schatten weg, die das Licht ausgesperrt hatten. Die Heile Welt ist das ewige Ziel, der heilige Gral. Und sie ist eine Chimäre. Irgendwie weiß das der Leser. Und French macht ihm klar, dass er es weiß. Sie indiziert Illusionen beim Leser, Illusionen, die auch Ryan pflegt. Sie bringt es ganz nah, das Leben wie aus einer Erinnerung, einer Erinnerungen an eine Jugend, eine Jugend voller Freundschaft, Leichtigkeit, unangestrengten Herumgammelns, flapsiger Sprüche. Freundschaft voll blindem Vertrauen, die etwas Besonderes ist und aus den Freunden etwas Besonderes macht. Die alte und vielleicht allen bekannte Sehnsucht nach dem Zwilling, die im Buch immer wieder kurz aufblitzt, steht für diese Art von Freundschaft. Nie mehr allein sein, sich ohne Worte verstehen. Erinnerungen an eine Zeit, die vorbei ist, wenn man erwachsen wird. Sehnsüchte, die man überwinden muss, wenn man erwachsen werden will. Und der Leser sowie auch Ryan sind am Ende des Buches erwachsen. Tana French ist schonungslos, wenn sie beiden den Spiegeln vorhält. Und ihnen genau die Illusionen wieder nimmt, die sie zuvor mit beiden Händen wie Flitter verteilt hat.
Am Ende des Buches verlassen Ryan und der Leser den Wald, blinzeln und reiben sich die Augen. Mit dem Wald verschwinden die Schatten, aber auch jedes Geheimnis, das das Leben so intensiv macht. Das undurchdringliche, unübersichtliche Grün weicht der offenen, gradlinigen Schnellstraße. Aber während Ryan begreift und akzeptiert, hofft der Leser bis zum Schluss. Bis zuletzt kehrt er zurück und sucht im kleinen Rest vom Dickicht. Mit der Zerstörung des Waldes fegt Tana French den Platz leer, aber trotzdem bleibt eine kleine, dunkle Stelle, und die befindet sich im Kopf des Lesers. Und ob der sich davon lösen möchte, bleibt seine eigene Entscheidung.
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Der Köder für den Leser ist simpel und äußerst effektiv. Es handelt sich um einen Fall aus der Vergangenheit, der alles beinhaltet, was die Neugierde und morbide Sensationslust eines Krimilesers reizt. Im Jahr 1984 verschwinden in einem Wald in der Nähe von Dublin drei zwölfjährige Kinder. Nur ein Junge wird später aufgefunden, ein weiterer Junge und das Mädchen bleiben verschwunden. Seltsame Schnitte in der Kleidung des Jungen und sehr viel Blut an seinen Schuhen lassen das Schlimmste befürchten. Und das Schlimmste tritt ein: die beiden Kinder werden nie gefunden. Es gibt keine Spuren, keine Verdächtigen, keine Motive. Und der gefundene Junge kann sich an nichts erinnern.
Sofort bricht eine Welle von Erwartungen und Assoziationen durch den ohnehin nur schwach gesicherten Grübeldamm des geneigten Krimilesers. Die ersten Vermutungen nehmen Gestalt an, die ersten Rekonstruktionen formieren sich. Der Krimileser ist in seinem Element – und Tana French kennt dieses Element genau. Und sie weiß vor allem welche Knöpfe sie jetzt drücken muss, damit aus dem Schwall von Vermutungen ein wahres Feuerwerk wird.
Der Krimi spielt in der Gegenwart und der Protagonist Ryan ist genau der kleine Junge, der 1984 verschwunden und ohne Erinnerung wieder aufgetaucht ist. Die Erinnerung ist noch immer nicht zurückgekehrt, aber Ryan kann damit leben. Genaugenommen ist er gar nicht scharf darauf, sich an etwas zu erinnern. Der Krimileser kann das naturgemäß nicht nachvollziehen, aber das Buch hat ja auch gerade erst angefangen. Ryan ist Polizist geworden. Aha. Nein, wieder daneben. Er will nicht seinen eigenen Fall lösen, ihn fühlt sich von der Arbeit an sich angezogen. Der Krimileser zuckt mit den Schultern. Wer es glaubt, … .
Von wegen glauben oder nicht glauben, trauen und nicht trauen. Ryan berichtet ganz zu Beginn von dem gespaltenen Verhältnis des Polizisten zur Wahrheit. Er sucht die Wahrheit. Aber um sie zu finden, lügt er. Der Krimileser vergisst den Spruch zwar im ersten Drittel des Buches wieder, aber er wird schnell daran erinnert. Von Tana French, die weitere Köder einstreut, kleine Anmerkungen fallen lässt, manchmal subtil, manchmal offensichtlich, die den Gedankenwirbel in Gang setzt, bis er sich schneller und immer schneller dreht. Genaugenommen ist dieses Buch Manipulation auf allen Ebenen, aber der Krimileser wird ihr das am Ende nicht übel nehmen. Genaugenommen tut sie nichts außer die Fantasie des Lesers anzustacheln, den Rest erledigt der Leser allein. Er rennt ganz allein in sein Verderben - und zwar genau so wie es auch Ryan tut. Zwar ist die Manipulatorin in seinem Fall bösartiger als im Fall des Lesers (nehmen wir jedenfalls mal zugunsten Tana Frenchs an), aber er und der Leser wissen später genau, dass es ihre eigene Paranoia war, die sie bis hierhin getrieben hat. Das ist eines der wunderbaren Merkmale dieses Romans: die Parallelität von Autorin und einer ihrer Figuren, von Ryan und dem Leser. Der Leser erlebt auf einer anderen Ebene genau das, was der Protagonist erlebt.
Die weitere Besonderheit ist das Spiel mit zwei wesentlichen Merkmalen des Whodunit: die Suche nach Wahrheit und die Sehnsucht nach der Heilen Welt. Groß geschrieben. In Bezug auf die Wahrheit ist der Whodunit als literarisches Genre in einer prekären Situation: er soll langsam die Wahrheit enthüllen, ohne den Leser zu betrügen. Etwas platt ausgedrückt löst French den Knoten durch massive Ablenkung. Sie beschäftigt den Leser intensiv mit anderen Dingen, und so übersieht er so manches. Tatsächlich ist die Ablenkung nur in einem Aspekt voluminös, in vielen anderen Aspekten ist sie fein wie ein Federkitzeln, sie ist verästelt, psychologisch, emotional. Was den Leser so beschäftigt, sind vor allem die vielen Fäden zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die gesponnen werden. Da ist zuerst einmal die Ähnlichkeit des Falls, den Ryan bearbeiten soll: ein zwölfjähriges Mädchen wird ermordet, in der Nähe des Ortes, an dem auch die beiden Kinder damals verschwunden sind. Dann taucht aber auch Cassie als Partnerin in Ryans Leben auf, genauso plötzlich wie Jamie damals verschwand und mit ihr und dem Kollegen Sam zusammen scheint Ryan die Zeit nachzuholen, das er mit Jamie und Peter vielleicht verlebt hätte. Und es sind die Zweifel, die gesät werden. Ryan hieß früher Adam. Das Leben Adams vor den Geschehnissen ist so gut wie ausgelöscht, fast scheint es sich um zwei Personen zu handeln. Das Moment der Schizophrenie taucht kurz auf. Die Versuche Ryans sich zu erinnern verlaufen ebenfalls zwiespältig. Kann er den Bildern trauen, die sein Gedächtnis plötzlich einspielt? Kann er sich trauen?
Das andere Moment, die Heile Welt, ist das eigentliche Ziel des klassischen Whodunit, und steht im Hintergrund jeder Lösung eines Falls. Der Polizist hat die Aufgabe, die verborgene Ordnung aufzudecken; er fegt die Schatten weg, die das Licht ausgesperrt hatten. Die Heile Welt ist das ewige Ziel, der heilige Gral. Und sie ist eine Chimäre. Irgendwie weiß das der Leser. Und French macht ihm klar, dass er es weiß. Sie indiziert Illusionen beim Leser, Illusionen, die auch Ryan pflegt. Sie bringt es ganz nah, das Leben wie aus einer Erinnerung, einer Erinnerungen an eine Jugend, eine Jugend voller Freundschaft, Leichtigkeit, unangestrengten Herumgammelns, flapsiger Sprüche. Freundschaft voll blindem Vertrauen, die etwas Besonderes ist und aus den Freunden etwas Besonderes macht. Die alte und vielleicht allen bekannte Sehnsucht nach dem Zwilling, die im Buch immer wieder kurz aufblitzt, steht für diese Art von Freundschaft. Nie mehr allein sein, sich ohne Worte verstehen. Erinnerungen an eine Zeit, die vorbei ist, wenn man erwachsen wird. Sehnsüchte, die man überwinden muss, wenn man erwachsen werden will. Und der Leser sowie auch Ryan sind am Ende des Buches erwachsen. Tana French ist schonungslos, wenn sie beiden den Spiegeln vorhält. Und ihnen genau die Illusionen wieder nimmt, die sie zuvor mit beiden Händen wie Flitter verteilt hat.
Am Ende des Buches verlassen Ryan und der Leser den Wald, blinzeln und reiben sich die Augen. Mit dem Wald verschwinden die Schatten, aber auch jedes Geheimnis, das das Leben so intensiv macht. Das undurchdringliche, unübersichtliche Grün weicht der offenen, gradlinigen Schnellstraße. Aber während Ryan begreift und akzeptiert, hofft der Leser bis zum Schluss. Bis zuletzt kehrt er zurück und sucht im kleinen Rest vom Dickicht. Mit der Zerstörung des Waldes fegt Tana French den Platz leer, aber trotzdem bleibt eine kleine, dunkle Stelle, und die befindet sich im Kopf des Lesers. Und ob der sich davon lösen möchte, bleibt seine eigene Entscheidung.
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teildesganzen - 8. Okt, 20:11