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Donnerstag, 24. September 2009

Die Zeit, London und ich

Hydepark

Wohin ist nur die Zeit verschwunden? Erst Sonntag sind wir nach London gefahren, standen auf dem Bahnhof in Köln, mit dem obligatorischen Frühstück auf dem Bahnsteig vor Städtereisen, saßen dann schon im Zug nach Brüssel und starrten aus dem Fenster, bevor wir uns den mitgebrachten Netbooks widmeten. In diesem Moment war ich mir noch nicht bewusst, dass die Zeit an mir vorbei fliegen würde, so dass ich sie vergessen habe, über dem pdf-Dokument, im Zug nach Belgien. In Belgien hatten wir mehr Zeit als genug, weil wir den Eurostar erst zwei Stunden später gebucht hatten. Also haben wir unsere Koffer in ein Schließfach gesteckt und sind über den Markt vor dem Gare Midi gelaufen, durch die guckende und kaufende Menge, vorbei an zu bunten Klamotten aus Kunstfasern für zehn Euro, an rohem Fleisch und Bergen von Gemüse. Die Zeit flog hinter uns her, während wir im Eurostar durch den Tunnel sausten und ich wieder lesend vergaß, dass die Zeit existiert. In London holte sie uns ein, und wir drängelten uns gemeinsam mit den Londonern und den Touristen durch Soho und Covent Garden an diesem sanften Sonntagabend, an dem alles so leicht und schwebend schien – bis, ja bis wir in der Pizzeria saßen und mir kalt wurde. Mein Hals schmerzte auf dem Weg zurück ins Hotel und jeder, der mir entgegenkam blockte mich wie ein nervendes Hindernis.

Dann stand die Zeit still in dieser Nacht, in der ich nicht schlafen konnte, in der dunkle Wolken von Begriffen in meinem Kopf steckten, Probleme, die ich nicht verstand und deren Sinn vor mir schwand in Richtung eines Horizontes, den ich nie einholen würde. In den klaren Momenten fragte ich mich, ob ich den Rest dieser Kurzreise im Bett verbringen würde und versuchte gleichzeitig, nicht über Konsequenzen nachzudenken, die mich nur noch mehr aufwühlen.

Irgendwann war die Nacht vorbei, und ab da war die Zeit immer vorne weg. Sie lief ohne sich umzublicken, während ich den Morgen im Bett verbrachte und versuchte mich gesund zu schlafen. Am Nachmittag schlich ich wie eine alte Frau über die knallige und laute Oxford Street, und flüchtete zurück zum Hotel und in die ruhige Weite des Hyde Park, wo ich in der schwachen Nachmittagssonne auf einer Bank saß und Kaffee trank. Hier schien die Zeit ein wenig zu verweilen, sie war mit mir, als ich zur Orangerie des Kensington Palace spazierte und die sorgfältig abgerundeten Buxbaumhecken fotografierte, um die gediegene Unaufgeregtheit eines englischen Nachmittags festzuhalten. Die Zeit hielt Schritt im versunkenen Garten, wo sich die sprühenden Tropfen der Fontänen im aufblitzenden Licht der Sonne brachen und der Herbst die Blumenbeete eroberte. Am See verabschiedete sich der Sommer in Form der letzten aufgeklappten Liegestühlen, deren gestreifte Sitze vom Wind zu Bogen geblasen wurden.

Als wenn sie über Nacht neuen Treibstoff getankt hätte, flog die Zeit am Tag darauf und entfernte sich immer weiter von mir. Sie tanzte vor uns her in Camden, wo wir sie schnell zwischen Taschen aus Kunstleder, schwarzer Gothik-Spitze und quitschigem Harajuku-Kitsch verloren haben. Als wir im Spitalfield Market nur noch beobachten konnten, wie die Händler die Waren mit beiden Händen von den Stangen schoben und in große Taschen verstauten, zeigte mir die Zeit den erhobenen Zeigefinger und begann sich zu drehen, schneller und schneller. Der Wirbel riss mich durch die verheißungsvolle Abgewracktheit der Bricklane und schleuderte mich zu Seven Dials, wo die Zeit entgültig in den sternförmig angelegten, von Schaufenstern gesäumten und mit Menschen verstopften Straßen verschwand.

Am nächsten Tag schnippte sie mit den Fingern und zauberte uns zurück auf den Bahnhof in Brüssel, wo ich mir die Augen rieb und mich fragte, ob ich wirklich schon fortgewesen bin.

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